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Antiziganismus: Ukrainische Roma werden diskriminiert

17. April 2024

Sie fliehen vor dem Krieg, aber statt Hilfe erfahren Roma in Deutschland oft Rassismus. Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) fordert Konsequenzen.

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Blick in ein Klassenzimmer, in dem fünf Kinder an ihren Pulten sitzen und lächelnd in die Kamera schauen
Ukrainische Roma werden oft ausgegrenzt. In Thüringen bereitet RomnoKher die Kinder auf den Schulalltag vorBild: RomnoKher Thüringen

Mehr als 1,1 Millionen Menschen sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet - darunter geschätzt mehrere Tausend Roma, Angehörige der größten Minderheit Europas. Während Geflüchtete aus der Mehrheitsgesellschaft unbürokratisch versorgt und herzlich willkommen geheißen wurden, erlebten die meisten Roma ein ganz anderes Deutschland: sehr bürokratisch und wenig hilfsbereit, misstrauisch, abwertend, rassistisch.

Zu diesem Ergebnis kommt die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) in ihrem Monitoringbericht "Antiziganismus gegen ukrainische Roma-Geflüchtete in Deutschland". Antiziganismus ist eine Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die man dafür hält.

Diskriminierung ukrainischer Roma "vom ersten Tag an"

Roma-Familien, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, haben in Deutschland denselben Anspruch auf Unterstützung wie ihre ukrainischen Landsleute. "Aber diese Willkommenskultur ist nicht für Roma da", sagt MIA-Geschäftsführer Guillermo Ruiz der DW: "Wir haben vom ersten Tag an beobachten können, wie ukrainische Roma in allen Formen diskriminiert worden sind." Rund 220 Meldungen seien dazu bei MIA eingegangen.

Blick in ein großes Zelt mit Tischen und Bänken. Im Hintergrund sitzen zahlreiche Menschen, vorne läuft ein Mädchen mit einer kleinen blau-gelben ukrainischen Flagge, die in die Kamera schaut
Gibt es in Deutschland Ukraine-Geflüchtete 1. und 2. Klasse? Ein Bericht dokumentiert Antiziganismus gegen ukrainische RomaBild: Adam Berry/Getty Images

Roma erleben demnach systematische Diskriminierung: in Flüchtlingsunterkünften, von der Polizei, die ihre Herkunft infrage stelle, von Bahn-Mitarbeitern, die sie aus Wartebereichen, Bahnhöfen oder dem Zug drängten, Schulbehörden, die Roma-Kindern monatelang keinen Unterricht ermöglichen, von Sozialarbeitern oder Ehrenamtlichen, die anderen Ukrainern engagiert helfen. "Das hat uns sehr geschockt", sagt Ruiz. Einige Roma-Familien seien so schlecht behandelt worden, dass sie zurückreisten ins Kriegsgebiet. Es gebe immer noch Hinweise aus ganz Deutschland auf rassistische Diskriminierungen.

"Ukrainische Roma sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden"

Gemeindevertreter in Bayern hätten gesagt: "Wir können weiter gerne ukrainische Geflüchtete aufnehmen, aber keine Roma." Ein Landrat äußerte sinngemäß, dass sie "Geflüchtete aufnähmen, nicht aber Hunde und Roma". Besonders erschreckende Aussagen, betont Ruiz, weil sie von deutschen Behörden ausgingen. "Deutschland hat eine historische Verantwortung für diese Minderheit."

MIA fordert, dass Deutschland dieser Verantwortung nachkommt, wie es der Bundestag am 14.12.2023 beschlossen hat, und betont: "Geflüchtete Roma müssen von der Bundesregierung als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt werden."

Blick auf eine historische Karte Europas, in der die Stätten des Völkermords an Sinti und Roma markiert sind wie Lager oder Orte von Massenerschießungen
Das nationalsozialistische Deutschland hat Sinti und Roma in ganz Europa verfolgt und hunderttausende Menschen ermordet

In Europa sind bis zu einer halben Million Sinti und Roma dem Völkermord durch das nationalsozialistische Deutschland zum Opfer gefallen. "Die ukrainischen Roma-Geflüchteten sind Nachkommen von Holocaust-Überlebenden", sagt Ruiz. Während der deutschen Besatzung wurde nach Schätzungen fast die Hälfte der ukrainischen Roma ermordet.

Kränze für die Ermordeten niederzulegen reiche nicht, mahnte Mehmet Daimagüler, Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung, am Internationalen Roma-Tag am 8. April. Er kritisierte den deutschen Umgang mit der Minderheit: "Wir achten die Toten und verachten ihre Nachkommen."

Ein Mann im dunklen Anzug richtet die Schleife an einem Kranz vor einem Denkmal, im Hintergrund sind viele weitere Menschen zu sehen
Verneigung vor den Toten: Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung Mehmet Daimagüler am Denkmal für die ermordeten europäischen Sinti und Roma im früheren Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (2022)Bild: Privat

Passgenaue Hilfe für geflüchtete ukrainische Roma

Renata Conkova ist jeden Tag im Einsatz für die Nachkommen der Verfolgten. Die 44-Jährige unterstützt geflüchtete ukrainische Roma bei Behörden und Ärzten, in der Schule und bei der Wohnungssuche. Als Romni in der Slowakei hat sie selbst Diskriminierung erlebt. Seit drei Jahren arbeitet sie in Thüringen für RomnoKher, eine Interessenvertretung für Menschen mit Roma-Hintergrund.

RomnoKher bietet Workshops an, in denen geflüchtete Roma erfahren, wie das Leben in Deutschland funktioniert. In einem Monitoring stellt Renata Conkova fest, ob Krankheiten vorliegen, Impfungen fehlen oder wie der Bildungsstand ist. Sie organisiert Alphabetisierungskurse für Kinder und Eltern. Das Interesse an Bildung sei groß.

Blick in ein Klassenzimmer: Im Vordergrund beugt sich eine Frau zu einem Mädchen und schreibt ihr etwas auf, im Hintergrund sitzen weitere Kinder vor ihren Heften
RomnoKher Thüringen bereitet gemeinsam mit anderen Organisationen geflüchtete ukrainische Roma-Kinder auf den Schulbesuch vorBild: RomnoKher Thüringen

Ausgrenzung in der Ukraine und in Deutschland

In der Ukraine seien viele Roma an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, lebten in extremer Armut am Rand der Städte, teils ohne Strom- und Sanitärversorgung. Viele berichteten, dass sie am Schulbesuch gehindert worden seien, sagt Conkova, das habe zu Analphabetismus über Generationen gesorgt. Der MIA-Bericht verweist auf Ausgrenzung bis hin zu antiziganistischer Gewalt in den 2010er Jahren.

Auch in Deutschland ist Rassismus für Roma-Geflüchtete Alltag, beobachtet Conkova: Einer Familie sagt man im Restaurant, da sei kein Platz für sie - alle Tische sind frei, keiner reserviert. Eine Frau muss in einem Textildiscounter ihre Handtasche öffnen: "Euer Volk klaut so gern." Als man nichts findet, entschuldigt sich keiner bei ihr. Ukrainische Roma erlebten, dass bei Behörden eingereichte Unterlagen mehrfach verloren gehen und sie ohne finanzielle Unterstützung dastehen.

"Was machen die Roma, wo ist das Problem?" - "Sie sind einfach da."

Bis heute seien uralte antiziganistischer Vorurteile gegen die Minderheit verbreitet, sagt Guillermo Ruiz, da sei die Rede von Kriminalität, Kinderraub oder Handel mit Kindern und Frauen. "Antiziganismus ist leider immer noch Normalität in Deutschland." Im MIA-Bericht finden sich Beispiele falscher Beschuldigungen. In einem Ort wurde behauptet, die Minderheit sei beteiligt an Schlägereien. Der Polizeichef wies die Aussage als falsch zurück.

Ein Mann mit Glatze steht an einem Rednerpult mit der Aufschrift: MIA - Melde- und Informationsstelle Antiziganismus
Dr. Guillermo Ruiz ist Geschäftsführer der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA)Bild: Annika Fuhrmann

Verbreitet würden Vorurteile durch Medienberichte, aber auch bei Versammlungen "besorgter Bürger" aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum, die teils durch die AfD organisiert werden, sagt MIA-Geschäftsführer Ruiz. Man bespreche das sogenannte "Roma-Problem". Er habe einen Bürgermeister gefragt, warum seine Bürger sich Sorgen machten: "Was machen die Roma, wo ist das Problem?" Der Bürgermeister sagte: "Sie sind einfach da."

Antiziganismus der ukrainischen Mehrheitsgesellschaft

Mehrfach erlebt Renata Conkova, wie ukrainische Dolmetscherinnen rassistisch über Geflüchtete sprechen: "Das sind nur Zigeuner, die können nichts." Unter der abwertenden Fremdbezeichnung wurden Sinti und Roma von den Nazis verfolgt und ermordet, das Z wurde ihnen in Auschwitz in die Haut tätowiert.

Eine Frau im schwarzen Kleid und Weste steht lächelnd vor einem Gebäude mit Glasfront über dem die blaue Flagge der EU mit goldenen Sternen hängt
Renata Conkova von RomnoKher Thüringen hat sich in der Roma-Woche in Brüssel über Antiziganismus in verschiedenen europäischen Staaten ausgetauschtBild: RomnoKher Thüringen

Andere ukrainische Geflüchtete weigern sich, mit Roma an einem Tisch zu sitzen. Kein Einzelfall, hat MIA festgestellt: In Köln demonstrierten geflüchtete Ukrainer für ihre Unterbringung getrennt von ukrainischen Roma, ähnliche Berichte kommen aus vielen Bundesländern. In einem Fall seien Roma-Familien so eingeschüchtert worden, dass sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer trauten.

Aufklärung siegt über Antiziganismus gegen Nachbarn

Wo vermittelt wird, geschehen manchmal kleine Wunder, wie Renata Conkova berichtet: Die Kinder einer Roma-Familie schauen aus dem 3. Stock neugierig zum gegenüberliegenden Haus, wo Kinder in einem Swimmingpool plantschen. Das haben sie noch nie gesehen. Der Vater aus dem Nachbarhaus aber bedroht die Roma-Familie mit einer Waffe.

Als eine Integrationshelferin und Renata Conkova den Mann ansprechen, stellt sich heraus, dass er aus lauter Angst vor Pädophilen verhindern wollte, dass irgendjemand seine Kinder beobachtet. Über Roma hat er nur Schlechtes gehört.

Als er von den Problemen der Familie gegenüber erfährt, fragt er: "Warum hat mir das niemand erklärt?" Die Kinder dürfen mit seinen Kindern spielen. Er erklärt den Nachbarn die komplizierte Mülltrennung in Deutschland und zeigt der Mutter, wo sie günstig einkaufen kann. Viele Menschen wüssten nichts über die Minderheit, sagt Conkova. "Es ist nicht jeder Rassist."

"Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma"

Die Meldestelle MIA fordert Fortbildungen und Sensibilisierung für Antiziganismus bei Behörden und Helfern, ebenso wie das Ende der Benachteiligung von ukrainischen Roma in allen Lebensbereichen.

Eine Frau im grünen Oberteil mit rötlichen halblangen Haaren steht gestikulierend vor einem Mikrofon
Bundesfamilienministerin Lisa Paus rief am Internationalen Roma-Tag zur Solidarisierung mit Sinti und Roma aufBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Am Internationalen Roma-Tag hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus Hetze gegen die Minderheit klar verurteilt: "Jeder Fall ist einer zuviel." Sie rief dazu auf, antiziganistische Vorfälle zu melden: "Stellen Sie sich an die Seite von Sinti und Roma!"